Andy Warhol: Eine derart explizite Schau gab es in der Nationalgalerie noch nie - WELT (2024)

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Andy Warhol ist sicher der bekannteste Vertreter der Pop Art – aber gerade die fehlt in der Ausstellung „Velvet Rage and Beauty“ in der Neuen Nationalgalerie in Berlin, die am 9. Juni öffnete. Brillo-Boxen, Campbell’s-Suppendosen, Marilyn Monroe und Elizabeth Taylors – all diese Ikonen lässt die Nationalgalerie einfach weg. Sie lässt auch Warhols Auftragsarbeiten weg, die mit zartem, betont händischem Strich gezeichneten Illustrationen, mit denen Andy Warhol in den 1950ern zu einem der bestbezahlten Künstler seiner Branche aufstieg.

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Stattdessen ist in der gläsernen Halle in aller Breite zu sehen, was Andy Warhol als Künstler und als Mensch offenbar am meisten beschäftigte: Männer, beziehungsweise Teile von ihnen. Eine derart explizite Schau dürfte es in der Geschichte der Nationalgalerie noch nicht gegeben haben. Die Ausstellung „Andy Warhol – Velvet Rage and Beauty“ zeigt uns in 250 Werken einen Warhol, den kaum jemand kennt. Das muss man erst einmal schaffen.

Wobei, es stimmt nicht ganz. Es hängt hier auch ein doppelter „Elvis“, ganz zu Beginn. Als Westernheld hat er seine Pistole gezogen. Der Kurator der Schau und Direktor der Nationalgalerie, Klaus Biesenbach, erkennt hier eine zumindest unterschwellig sexuelle Geste. Dem muss man nicht folgen, aber es passt in die Logik seiner Auswahl, weil Elvis Presley natürlich einer der begehrtesten Männer seiner Zeit war und die Zeitgenossen mit ein bisschen Hüftschwung reihenweise in Ohnmacht fallen ließ. Andy Warhols Verfahren der mehrfachen Wiederholung eines Motivs kann, so Biesenbach, auch als Ausdruck von Unersättlichkeit gelesen werden, auch als Ausdruck von Verlustangst.

Andy Warhol: Eine derart explizite Schau gab es in der Nationalgalerie noch nie - WELT (1)

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Seine beiden wichtigsten Beziehungen unterhielt der Künstler mit jüngeren Männern, die jeweils eineiige Zwillinge hatten – Jed Johnson und Jon Gould. Beide tauchen in der Schau mehrmals auf. Seine männlichen Modelle, ob unbekannte Schönlinge oder Superstars wie Mick Jagger, zerlegt Warhol in einzelne Körperpartien wie ein Fetischist. Lebenslang hatte der von vielen als kühl und distanziert wahrgenommene Künstler die Angewohnheit, die Genitalien von Bekannten zu zeichnen.

Dirty Andy? Es ist nicht die sprichwörtliche Kiste auf dem Dachboden, die hier ausgeräumt wurde und auch kein Blick durchs Schlüsselloch. Was an den in die weite Halle eingezogenen weißen Wänden hängt, ist als Kunst entstanden, darauf legt der Kurator Wert. Private Briefe oder weiße Perücken gibt es keine zu sehen. Was die Öffentlichkeit aber zu Lebzeiten Warhols mit dessen Leidenschaften anfangen konnte, ist eine andere Frage.

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Der Künstler selbst wusste immer genau, was er zeigen wollte. Die Mappe, mit der Warhol bei Galerien hausieren ging, enthielt Zeichnungen sich umarmender Männer. Ein Vierteljahrhundert vor der Legalisierung von hom*osexualität im Staat New York bekam er 1952 seine erste Soloschau in der Hugo Gallery, von der keine Bilder überliefert sind. Die Schau floppte. Noch war es die Zeit der Abstrakten Expressionisten à la Pollock, die entweder heterosexuell waren oder sich verleugneten. Alles, was figurativ und noch dazu vage schwul aussah, war in der Kunst noch nicht durchsetzbar – und genau das machte Warhols Ansatz zur Avantgarde.

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„Warhol wird oft als Intrigant und Karrierist bezeichnet“, schreibt Blake Gopnik in seiner 2021 erschienenen, wegweisenden Biografie. „Aber es stellt sich heraus, dass er bereit war, die Kunst, an die er glaubte, auch dann zu unterstützen, wenn sie ihm oder seiner Karriere nicht half.“ Erst die figurative Pop-Art brachte ihm in den Sechzigern den Durchbruch. Kurator Biesenbach belässt sie als Lücke und zeigt, was Warhol davor, danach und nebenher produzierte: Ansichten schöner Männer. Warhols bisher nur wenig thematisierte Sexualität war offenbar nicht nur eine Trieb-, sondern vor allem auch eine Antriebskraft.

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Auf dem Höhepunkt seines Aufstiegs wurde Warhol am 3. Juni 1968 von der radikalen Feministin Valerie Solanas angeschossen, was seinen Körper für immer zeichnen sollte. Solanas identifizierte Warhol mit dem verhassten Patriarchat. Ausgerechnet ihn, den schwulen, eher femininen Mann, der sich selbst in zahllosen Polaroids als Dragqueen „Drella“ inszenierte und der so gar nichts vom klassischen Macho an sich hatte, im Gegenteil. Wer die Umstände seines Aufwachsens kennt, der weiß, dass Warhol sich immer gegenüber einer patriarchal-konformistischen Gesellschaft behaupten musste. Doch Valerie Solanas war psychisch krank – sie wurde nach dem Attentat als schizophren diagnostiziert.

Warhol überlebte die Schüsse von 1968 nur knapp. Der Mann mit der silberweißen Perücke verdiente als Auftragsmaler für die Reichen dieser Welt in den 70er-Jahren Millionen. So entstand viel Dutzendware, wie die Porträts bunt angemalter Industrieller und ihrer Gattinnen. Aber eben nicht nur. Die lange günstig gehandelte, weil wenig geliebte Serie „Ladies and Gentlemen“ basiert ebenfalls auf Polaroid-Porträts, die anschließend als Siebdrucke auf Leinwand übertragen und dann bunt bemalt wurden. Diesmal zahlten aber nicht die Porträtierten selbst, sondern ein italienischer Mäzen.

Dragqueens, Transfrauen und Transvestiten

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Alle in „Ladies and Gentlemen“ Dargestellten sind schwarze oder hispanische Dragqueens, Transfrauen und Transvestiten. Als ob er endlich eine andere Seite von sich erkunden dürfte, stürzte Warhol sich in das Projekt und produzierte am Ende 268 Leinwände, wo doch nur 100 bestellt waren. Eine zeigt die schwarze Bürgerrechtlerin Marsha P. Johnson, die an den Stonewall-Unruhen von 1969 beteiligt war, einem Gründungsmoment der LGBTIQ-Bewegung.

Ab 1977, dem Eröffnungsjahr des legendären New Yorker Nachtclubs Studio 54, entstand, was in der Neuen Nationalgalerie einen zentralen Saal füllt. Es sind die wenig bekannten Serien „Torsos“ und „Sex Parts“. Mit „Torsos“ knüpfte Warhol an Traditionen der Hochkunst an, wie man sie in den Museen bewundern kann, wenn auch ausschnitthafter. Nun gibt es aber auch noch eine zweite, parallel entstandene Serie – und hier überschritt Warhol auf den ersten Blick die Grenze zur p*rnografie. Die Folge „Sex Parts“ zeigt Geschlechtsteile, Hintern, gefesselte Handgelenke und verschiedenste Formen der Penetration, was die Neue Nationalgalerie für die nächsten Monate zu einem herausfordernden Ort für den sonntäglichen Familienbesuch macht. Am Eingang wird es zwar Hinweise auf die expliziten Inhalte geben, aber keine generelle Altersbeschränkung.

Die „Sex Parts“ sind aber dennoch Kunst. Der leichthändige Strich, mit dem Warhol einst anfing, war Ende der 1970er immer noch da, als habe es die glatten Kommerzarbeiten nie gegeben. Zu Lebzeiten ausgestellt wurden die „Sex Parts“ zwar, dann aber in den früheren Warhol-Retrospektiven unter den Teppich gekehrt. Das Museum leistet hier, was Museen tun sollten: Es zeigt unbekannte und wenig gesehene Facetten von berühmten Künstlern, nicht nur die weichgespülten Superhits. Ob man damit dann zurechtkommt, liegt am Betrachter selbst.

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Könnte es sein, denkt man angesichts dieser lebenslang durchgehaltenen Fixierung auf männliche Schönheit, dass Andy Warhol auch deshalb so produktiv war, weil Kunstmachen für ihn eine Fortsetzung seiner Sexualität mit anderen Mitteln darstellte? Keinen Ersatz, wohlgemerkt, der Künstler war definitiv kein Mönch, wie wir auch Dank der Biografie von Blake Gopnik wissen. Seine Unnahbarkeit aber war Inszenierung – privat schrieb er herzerweichende Liebesbriefe, sehnte sich nach Zweisamkeit. Die Kunst bot Andy Warhol die Möglichkeit des Fixierens von etwas, das im Leben oft unerreicht blieb und dann auch endlich war, so vergänglich wie die schönen Körper, so vergänglich wie die eigene Attraktivität und das Leben selbst.

Damit zum dritten großen Motiv dieses Jahrhundert-Œuvres, neben Berühmtheit und Sex: dem Tod. Der im Massenmedium reproduzierte, tragische „Car Crash“, der grausam-distanzierte „Electric Chair“, der Flugzeugabsturz, den Warhol schon 1962 als sensationalistische Zeitungsmeldung abmalte („129 Die in Jet!“) – all das sind bekannte Motive, die heute zu den teuersten Gemälden der Welt zählen, lauter morbide Ikonen des 20. Jahrhunderts.

In den folgenden Dekaden malte Warhol dann Totenschädel, Kreuze und kurz vor seinem Tod „Das letzte Abendmahl“ nach Leonardo da Vinci. Aber dann ist da auch der unsichtbare Tod. Die Schwarz-Weiß-Fotografien seines Freundes an der Küste von Neuengland sind auf den ersten Blick einfach unbeschwerte Darstellungen privaten Glücks. Doch auf den Aufnahmen, die Warhol von Jon Gould machte, liegt ein dunkler Schatten – der Amerikaner starb wenige Jahre später mit nur 33 Jahren. Dass seine letzte Liebe an Aids starb, wollte Andy Warhol selbst in seinen Tagebüchern nicht wahrhaben.

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